DER GANG IN DIE NACHT

Ein angesehener Arzt lässt seine Verlobte für eine naiv-laszive Tänzerin im Stich und zieht mit ihr an die stürmische See. Als Landarzt gibt er auch einen mysteriösen blinden Maler das Augenlicht wieder. Beim ersten Blickwechsel des Geheilten mit der Tänzerin verfallen die beiden einander in unbändiger Leidenschaft. Jahre später ist der Arzt ein erfolgreicher Spezialist der Augenheilkunde, jedoch innerlich durch die Erfahrungen gebrochen. Als der Maler erneut zu erblinden droht, bittet die Tänzerin den Arzt, ihm erneut das Augenlicht wiederzugeben. Der Arzt rächt sich im Affekt, indem er als Preis ihren Freitod fordert. An ihrem Totenbett lehnt der Maler eine weitere Augenbehandlung ab.

Friedrich Wilhelm Murnau gehört neben Fritz Lang und G. W. Pabst zu den wichtigsten Regisseuren des frühen deutschen Films. Sein NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (1922) lehrte Generationen von Kinogängern das fürchten, sein DER LETZTE MANN (1924) revolutionierte das Kino in der Beweglichkeit der Kamera, sein„Faust. Eine deutsche Volkssage“ (1926) setzte Tricktechnische Maßstäbe und mit seiner amerikanischen Produktion SUNRISE erlangte er 1927 gar die höchste aller Ehrungen: den Oscar für den besten Film. Umso mehr verwundert es, dass die ersten sechs Filme des Regisseurs verschollen sind. Der früheste erhaltene Film, DER GANG IN DIE NACHT (1921) fand in den letzten Jahrzehnten nur wenig Beachtung. Zu Unrecht, wie sich nun herausstellte.
Die 2015/16 durch das Filmmuseum München rekonstruierte und digital restaurierte Fassung zeigt einen erstaunlich souverän gestalteten Murnau-Film. Dezenter und weniger effekthaschend, dafür stilistischgeschlossen und eindrucksvoll gespielt. Das Drehbuch des legendären „Film-Autors“ Carl Mayer trägt in seinen fünf Akten Züge antiker Dramen, durchdacht konstruiert im Kontrast zwischen Stadt und Land sowie zwischen dem bürgerlichen Milieu eines Arztes und der leidenschaftlichen Welt einer Tänzerin.
Dabei zeigt sich Murnau von den einst so populären Meisterwerken des skandinavischen Stummfilms beeinflusst und greift in seiner Bildsprache auch immer wieder Motive eines Caspar David Friedrich auf. Das sturmgepeitschte Meer wird zum wesentliche Akteur einer Küstenlandschaft, welche sich süßlich um Liebeszenen schmiegt oder grausam tobend das unentrinnbare Schicksal begleitet. Schicksalhaft ist auch Murnaus Filmmontage: Im Wechsel von Spielszenen und Naturaufnahmen werden psychologische Zustände offenbart und der Film narrativ strukturiert. Dabei sind die Bilder gekonnt komponiert und die Interieurs bemerkenswert ausgeleuchtet: Dezent und Impressionistisch die Raumfluchten der Boudoirs und kontrastreich wie expressionistisch die Dunklen und düsteren Landhaus-Szenerien. Nasser Asphalt, wie er den „Letzten Mann“ in tiefen nächtlichen Straßenschluchten verschwinden ließ, klingt hier bereits an. Überhaupt finden sich im GANG IN DIE NACHT wesentliche Anknüpfungspunkte für Murnaus weiteres Schaffen.
Text von Richard Siedhoff.